Kritiken

"Schlüsselprosa, Regengeist und Ernüchterung

Das Poetenfest in Erlangen ist ein denkbar ungünstiger Ort, um Nachrichten zu produzieren. Möglicherweise liegt das an den Berichterstattern, die es gemeinhin vorziehen, sich zu den Besuchern auf die Schlosswiese zu legen und den Dichtern beim Vorlesen zu lauschen. Andererseits liegt es wohl auch an den Poeten selbst: Man ist schließlich gekommen, um sechs Wochen vor der überaus hektischen Frankfurter Buchmesse noch einmal entspannt aus dem eigenen neuen Werk rezitieren zu dürfen. Und man ist gekommen, um im 'Theatercafé' in einer gewöhnlich sehr langen Erlanger Nacht wieder einmal ganz unter sich sein zu können. Das Ganze hat für die Poeten üblicherweise den Spannungsgrad eines Schulausflugs. Für den Dichter Norbert Gstrein aber war das diesmal anders, beim 30. Poetenfest in Erlangen.

Das denkwürdige Denkmal des Norbert Gstrein

Gstrein hat für den Aufreger des Lesesommers gesorgt. Die Zahl der Rezensenten, die darüber schreiben, dass alle anderen jetzt darüber schreiben, dass der Autor Gstrein einen Roman im Verlag Hanser geschrieben habe, in dem er womöglich der Verlegerin aus seinem ehemaligen Verlag Suhrkamp ein höchst denkwürdiges – um nicht zu sagen: ganz und gar rufschädigendes – Denkmal gesetzt haben könnte, diese Zahl der Rezensenten liegt inzwischen im dreistelligen Bereich. Das Gute am Erlanger Poetenfest ist es nun, dass die Dichter nicht nur aus ihrem Neuwerk vorlesen dürfen. Sie müssen anschließend auch, auf  einem kleinen Nebenpodium unter Platanen, Auskunft darüber erteilen, was sie nun eigentlich gemeint haben mit ihren Zeilen. Das Beste an Erlangen schließlich ist es, dass die Moderatoren ihre Fragen zum Werk auf eine bemerkenswert lässige Weise stellen – dabei aber unter besagten Platanen ziemlich hartnäckig sein können.
Dirk Kruse heißt der Moderator, der Gstrein so lange löchert, bis der aufhört, Allgemeinplätze über die grundsätzliche Beziehung von Fiktion und Wirklichkeit in einen fränkischen Schlosspark zu sprechen. Kruse, das entnimmt man dem Programm, schreibt selbst Kriminalromane, möglicherweise bezieht er seine vertieften Kenntnisse in Sachen Kreuzverhör aus dieser Tätigkeit. Gstrein sagt anfangs das, was immer alle Dichter sagen, die einen kaum verschlüsselten Schlüsselroman geschrieben haben: Man dürfe seinen Roman Die ganze Wahrheit natürlich 'nicht eins zu eins nehmen'. Auch wenn die Hauptfigur Dagmar – mannstoll, dem Verschwörungswahn anheim gefallen, dem Okkultismus absolut nicht abgeneigt – noch so sehr seiner ehemaligen Verlegerin Ulla Berkéwicz ähneln mag, mit der sich der Autor Gstrein einst bei seinem früheren Verlag Suhrkamp überworfen hatte. Ein Rachefeldzug? 'Merkwürdig', schimpft Gstrein über die bösen Entschlüssler seiner Schlüsselprosa, 'wie viele Leute jetzt zu wissen glauben, was Realität ist im Suhrkamp-Verlag'. Aber erwidert der Moderator, und tut schön harmlos dabei, es existiere da doch ein sehr realer Humus, auf dem dieser Text gediehen sei, oder nicht? Gstrein erzählt nun etwas von einer 'Fiktion zweiter Ordnung', weil Ulla Berkéwicz, die reale Suhrkamp-Verlegerin, einen Text geschrieben hat – und Dagmar, die nervige Figur aus dem fiktiven Verlag, einen ganz ähnlichen Text schreibt und so weiter. Weil der Moderator aber noch immer so tut, als halte er Fiktionalität für einen medizintechnischen Fachterminus, produziert der Dichter am Ende doch noch Wissenswertes aus Erlangen: Ja, sagt der ehemalige Suhrkamp-Mann Gstrein, er halte 'die Krise des Suhrkamp-Verlages für eine Krise der Führungsspitze'. Und nein, sagt Gstrein: 'Ich habe nicht den Suhrkamp-Verlag verlassen, ich habe den Verlag unter dieser Verlegerin verlassen.' Und nein, er fürchte keine juristischen Schritte der Suhrkamp-Verlegerin gegen ihn – und dies schon deswegen, weil der Konflikt immerhin im Verlags-Milieu spiele: 'Verlage müssen doch mit der Freiheit der Kunst noch offener umgehen als andere', weiß Gstrein. Der Moderator lächelt zufrieden und nach einer halben Stunde Kreuzverhör bläst eine Sturmböe einigen Zuhörern den Hut vom Kopf. 'Oh, jetzt hat sich Frau Suhrkamp doch noch gerächt', sagt Kruse.

Überhaupt spielt das Wetter eine der Hauptrollen bei diesem 30. Poetenfest. Monate zuvor schon sind höchst unangenehme Wolken aufgezogen über dem Erlanger Schlossgarten, zum wiederholten Mal mussten die Festivalmacher mit weniger Geld auskommen. Die Debatte trägt inzwischen Züge einer Beckett-Posse. Das Jubiläum im Park ist dann auch geprägt von Wirbelwinden und Regengüssen, am heftigsten trifft es dummerweise Adolf Muschg, den man ohne zu viel Pathos einen Grandseigneur der deutschsprachigen Literatur nennen darf. 'Sax' heißt sein neuer Roman, Muschg erzählt die Geschichte aus einem Schweizer Geisterhaus, und er liest diese Geschichte so lange, bis dem Mensch neben ihm der Schirm aus der Hand zu fallen droht. Muschgs erster Versuch, die Lesung zu unterbrechen, scheitert am Proteststurm im Schlosspark, aber irgendwann geht es nicht mehr, die Festgesellschaft muss umziehen ins Trockene. Muschg lässt drinnen ausrichten, er sei sehr gerührt über diese Sonderform des Erlanger 'Sitz- und Stehvermögens'. Der Umzug hat auch etwas Gutes: Vom Jubiläumsfest wird bleiben der Auftritt der Lyrikerin Nora Gomringer, die nichts dagegen einzuwenden hat, wenn man sie eine 'junge Mutter der Spoken Word Poetry' nennt. Gomringer schluchzt, krächzt und keucht ihre neuen Gedichte wunderbar in den Saal, und die Art des Vortrages ist eindeutig so beabsichtigt. Draußen, unter den Bäumen, wäre das so klar nicht zu erkennen gewesen, denn die Dichterin plagt eine hartnäckige 'Platanen-Allergie' wie sie bekannt gibt. Ihr Krächzen hätte also ein schnelles Ende nehmen können, was überaus schade gewesen wäre. Aus Gomringers neuem Band sei zur Illustration hier nur das Kurzgedicht 'Bauernidylle' zitiert: 'Vater/Mutter/Rind'. Von der 30 Jahre alten Lyrikerin, sie ist seit wenigen Monaten Direktorin des Bamberger Literaturhauses 'Villa Concordia', ist am Ende auch etwas Versöhnliches zu hören über ein Thema, das sich – offenkundig unbeabsichtigt – wie ein roter Faden durch das 30. Erlanger Poetenfest zieht."

Olaf Przybilla, Süddeutsche Zeitung, 31.08.2010

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